Was passiert, wenn eine internationale UX-Größe bei UX&I aufschlägt und mit uns über Bohnen und Nasen, Hände und Hirne diskutiert? In diesem Artikel fassen wir für dich zusammen, was Jared Spool bei unserem Flipper Friday über UX-Strategie erzählte und warum es für ihn zwei grundlegende Unterscheidungen bei UX-Dienstleistern gibt.
Warum Jared Spool?
Der Flipper Friday ist bei UX&I das Format, in dem wir Erfahrungen teilen, uns über Projekte austauschen und Wissen tanken, auch gern mit externen Expert*innen. Diesmal freuten wir uns auf hohen Besuch: Jared Spool ist Autor, Forscher, Pädagoge und gefeierter Redner. Er ist seit 43 Jahren in der Techbranche zuhause. Gemeinsam mit Leslie Jensen-Inman hat er das Center Centre * UIE gegründet, um als “Maker of Awesomeness” industrietaugliche UX-Designer*innen auszubilden und Unternehmen zu helfen, wettbewerbsfähige Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln. Spool beschäftigt sich leidenschaftlich mit der UX-Welt und trägt immer wieder spannende Impulse in die Community, beispielsweise zur UX Maturity.
Das Team von UX&I hat sich von Spool ausdrücklich keinen Vortrag gewünscht, den man genauso gut online anschauen könnte. Wir wollten eine Diskussionsrunde, in der wir konkrete Fragen aus unserem Projektalltag und dem unserer Kund*innen besprechen können. Und die bekamen wir.
Hands vs. Brains: Job erledigen oder Problem lösen?
Spool brachte uns eine zentrale These mit: Jede UX-Agentur, bzw. in unserem Fall UX-Beratung, muss sich festlegen – liefern wir Hands oder Brains? Treten wir als Dienstleister auf, der einen Job erledigt (Hands) oder wollen wir ein Problem lösen (Brains)? Umgekehrt muss sich auch jedes Unternehmen die Frage stellen, welche Art von Dienstleister gebraucht wird, denn die Implikationen sind weitreichend.
Zunächst zeigte Spool die Trennlinien zwischen Hands und Brains auf.
Taktik vs. Strategie
Ein Großteil der UX-Arbeit ist derzeit taktisch und somit Hands Work. Konkrete Jobs werden mithilfe passender Methoden ausgeführt. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich Ziele oder Probleme im Prozess ändern.
UX-Strategie ist das Gegenteil, Spool sprach hier von einem “high-level plan”. Es geht darum, was wir tun werden und was nicht. Wie können wir all das Wissen, die Ressourcen, die Menschen, das Know-how und die Werkzeuge nutzen? Wie können wir Produkte und Services so designen, dass sie zum Unternehmensziel beitragen? Die Strategie muss sich immer wieder der Situation anpassen. Ein Problem sieht Spool darin, dass die UX-Strategie neben vielen anderen Strategien im Unternehmen existiert, beispielsweise Marketing oder Sales, und noch zu selten versucht, auf diese Einfluss zu nehmen und sie mit User Insights zu unterstützen.
Output vs. Outcome
Eine zweite Unterscheidung trifft Spool im Hinblick auf das Ergebnis. Hands liefert Output, also konkrete Deliverables, Brains hingegen Outcome. Beim Outcome stellt sich die Frage: Wenn wir unseren Job gut machen – wie verbessern wir damit das Leben unserer Nutzer*innen? Wir müssen dazu die aktuelle Nutzererfahrung kennen wie auch die derzeitigen Nutzerprobleme.
Preis vs. Expertise
Hands Work wird in der Regel extern eingekauft, wenn intern gerade die Ressourcen fehlen. Theoretisch könnte die Arbeit aber auch im Unternehmen selbst erledigt werden. Der Job ist auf eine spezifische Aufgabe ausgerichtet. Die Wahl des Dienstleisters hängt stark vom Preis ab. Brains Work hingegen muss ein Problem lösen. Das Unternehmen kann dies intern nicht leisten, da Fachwissen und Erfahrung fehlen.
Brains Work ist nicht einfach reproduzierbar, für jedes Problem müssen eigene Lösungen erarbeitet werden, es gibt keine schnellen Standardmethoden. Brains müssen nicht nur ihren eigenen Auftrag verstehen, sie müssen das gesamte Business-Modell verstanden haben.
Werden Brains gesucht, so steht bei der Auswahl die Expertise im Vordergrund, weniger der Preis.
Kann ich nicht alles aus einer Hand haben?
Spools strikte Trennung zwischen Hands und Brains ließ bei uns so manche Fragezeichen aufploppen: Buchen uns unsere Kund*innen nicht für beides? Wir kommen, um ein Problem zu lösen. Gleichzeitig aber packen wir auch mit an, beispielsweise bei der Umsetzung des UI-Designs oder bei der Entwicklung. Und letztendlich machen wir uns gern überflüssig, wollen also unser Wissen weitergeben und Kund*innen enablen. Ist das nicht eine klare Unklarheit in puncto Hands und Brains? Können wir nicht erstmal Hands liefern und Brains dann im Laufe der Zeit mit reinbringen? Kopfschütteln von unserem Gast.
Bitte festlegen
Für Spool zählt die Grundausrichtung, die von Anfang an klar sein muss, und zwar für Dienstleister wie auch für das Unternehmen. Soll ein Auftrag ausgeführt werden oder soll ein Problem gelöst werden – mit allem, was dazu gehört? Brains Work ist nicht nur sehr viel teurer, es erfordert auch ein viel umfassenderes Mandat. Wenn während des agilen Prozesses auffällt, wir arbeiten eigentlich am falschen Problem, muss Brains die Möglichkeit haben, den Fahrplan entsprechend zu ändern.
"For brains work you need a card blanche."
Ein Festhalten an der Lösung für ein falsches Problem wäre im Sinne von Hands Work jedoch legitim. Spool sieht keine Mischformen. Selbst wenn im Prozess auch konkrete Jobs umgesetzt werden, handelt es sich für ihn um Brains Work, wenn dies Teil des Gesamtziels ist, also der Lösung eines Problems.
Brains sind Facilitators
In der Diskussion trat ein weiterer Brains-Faktor hervor: das Enablement. Der Dienstleister sorgt dafür, dass das Unternehmen den UX Mindset verinnerlicht und auch fähig ist, die richtigen Leute fürs Hands Work zu finden, sprich, ein gutes Briefing zu erstellen. Dabei ist es wichtig, von Anfang an klarzustellen: Wir bauen dir nicht das fertige Produkt in der ersten Version. Wir bringen dich dazu, dass du es in der zweiten Version selbst liefern kannst.
“Basically when you are doing hands work, you are delivering design. But when you are doing brain work, you are facilitating the delivery of a design.”
Brains arbeiten als Facilitators. Das erfordert nicht nur abstraktes Wissen, sondern auch das Handwerkszeug. Brains haben oft jahrelang als Hands gearbeitet und bringen dieses Wissen ein (so auch bei UX&I, wir alle kennen unser Fach von der Pieke auf).
“Knowing the hands work helps you do the brain work.”
Beans and Noses: Veränderung muss von innen kommen
Spool betonte immer wieder, wie wichtig der richtige Fit und das gemeinsame Verständnis zwischen Dienstleister und Auftraggeber ist, gerade wenn es um Hands und Brains geht. Wer sich für Brains entscheidet, muss um das eigene Problem wissen und akzeptieren, dass es gelöst werden muss. Diese Einsicht kann nicht von außen erzwungen werden. Spool erklärte dies mit der Metapher von Beans and Noses: Wenn jemand beschlossen hat, sich eine Bohne in die Nase schieben zu müssen, um ein bestimmtes Problem zu lösen, muss er oder sie das tun und kann von außen nicht davon abgebracht werden. Auch nicht mit klugen Argumenten und Fakten. Externe können im Nachgang fragen, wie es sich angefühlt hat und ob das Problem nun gelöst ist. Dann erst kann Hilfe angeboten werden. Aber der Wille und die Einsicht, einen neuen Lösungsweg einzuschlagen und sich dabei helfen zu lassen, muss immer von innen kommen.
“It’s a myth that we can get other people to change. That does not happen. The only thing that causes someone to change is they decide to change themselves.”
Sind Brains zu teuer?
Nach Spool kosten Brains drei- bis fünfmal so viel wie Hands. Warum? Wie kannst du dies gegenüber Finanzverantwortlichen verargumentieren?
Entscheidend ist, das UX-Problem nicht punktuell zu betrachten, sondern mit all seinen Auswirkungen im Gesamtkontext des Unternehmens. Danach muss sich der Preis richten, um das Problem zu lösen. Ein Beispiel Spools: Hat ein Produkt einen UX-Fehler, werden Nutzer*innen immer wieder Hilfe brauchen. Sie wenden sich an den Support oder Customer Success, hier werden viel mehr Ressourcen benötigt. Die Argumentation für Brains gelingt am besten durch die Gegenrechnung: Was kostet es, das Problem nicht zu lösen?
Pay zero!
Spool geht soweit zu sagen, ein Dienstleister sollte nur bezahlt werden, wenn das Problem wirklich gelöst wurde. Doch was heißt das für die Kalkulation? Sie ist mit viel mehr Risiken und unvorhersehbaren Variablen behaftet als Hands Work. Brains Work ist strategisch und muss sich immer wieder der Situation anpassen. Ändert sich im Prozess beispielsweise das Businessziel, muss sich auch die UX-Strategie ändern – selbst wenn bereits viel Zeit und Mühe in die ursprüngliche Problemlösung geflossen ist. Wie kann unter diesen Bedingungen ein angemessener Preis gefunden werden?
Discovery Projects
Spool schlägt im Zweifelsfall ein Discovery Project vor. Es nimmt etwa 10 – 20 % des Gesamtprojekts ein und dient dem Zweck, gemeinsam vorab das Problem zu verstehen und einzuschätzen. Oft wird erst hier der wahre Umfang des Projekts deutlich. Danach können die Kosten gezielt berechnet werden. Ein weiterer Vorteil: Du erfährst schon vorab, wie professionell der Dienstleister arbeitet und kannst daraufhin deine Entscheidung treffen.
Fazit
Spool hat mit seinem Brains-vs-Hands-Vortrag eine spannende Diskussion angeregt – bei uns im Team, aber auch bei den Kund*innen und Partner*innen, die wir mit eingeladen hatten. Vor allem beim strikten Entweder-Oder gingen die Meinungen stark auseinander.
Wir sehen Spools These als Impuls, das eigene Selbstverständnis und unsere Herangehensweise weiter kontinuierlich zu beleuchten und diese – unabhängig von einer Trennung in Hands und Brains – genau auszutarieren, je nach den Bedürfnissen unserer Kund*innen. Umgekehrt lohnt es sich auch bei der Wahl externer UX-Expert*innen, von Beginn an zu hinterfragen: Was erwartest du von deinem Dienstleister und wie sieht dieser sich selbst? Welches Mindset, welche Tools und Skills braucht es für die Aufgabe bzw. das Problem?
Worauf es außerdem bei externer Unterstützung ankommt, kannst du in diesem Artikel nachlesen: Warum du UX inhouse etablieren solltest – und wie du es machst.