Wie wir 16 Remote Design Sprints in 8 Wochen überlebt haben
Mitte März 2020. Home Office. Jetzt. Aber es stehen 16 Design Sprints auf dem Plan, vor Ort beim Kunden, Start nächste Woche! Design Sprints sind in Präsenz, von Angesicht zu Angesicht, mit großen Wänden und vielen vielen bunten Post-its.
Es half nichts, wir mussten innerhalb einer Woche ein Remote-Konzept entwickeln. Doch das Beste, wenn du einfach mal machst und keine Zeit hast: Du wirst super kreativ, improvisierst, fällst auf die Nase und lernst ständig dazu. Was wir von diesen 8 extremen Wochen mitgenommen haben sind jede Menge Denkanstöße, neue Prozesse, und ein 20-fach verändertes Miro-Template für einen reibungslosen Remote Design Sprint. All das möchten wir hier mit dir teilen. Packen wir’s an.
Ganz kurz, was ist ein Design Sprint?
Im Design Sprint werden Lösungen für ein Nutzer- oder Businessproblem erarbeitet. Die beste Idee wird dann anhand eines Prototypen an echten Nutzern getestet. Am Ende hast du das nötige Feedback, um aus der Lösung ein echtes Produkt werden zu lassen oder sie zu überarbeiten bzw. zu verwerfen. Das alles passiert innerhalb von 5 Tagen und mit einem kleinen Team.
Wie das Format funktioniert und wie wir es angepasst haben erfährst du hier: „Design Sprint-Methode: Ideen verproben in 5 Tagen“.
Besonderheiten beim Remote Design Sprint
Wir lieben Design Sprints! Wenn wir einen Sprint-Raum betreten, der am ersten Tag noch voller leerer Wände ist, steigt die Vorfreude auf die kommenden Tage. Auf Diskussionen und Ideen und Möglichkeiten. Auf Tage ohne Monitor vor der Nase, mit vielen Post-its, Stiften und Papier …
Also dann jetzt remote.
Vorteile
Erstmal das Schöne: Ein virtuelles Setting bringt auch Vorzüge. Du bist ortsunabhängig und kannst die besten Experten dazu holen, ohne sie aus Tokyo oder Timbuktu einzufliegen. Die Organisation und Kosten für Räumlichkeiten fallen weg. Durch digitale Tools wird alles automatisch dokumentiert, jeder Schritt wird effizient und nachvollziehbar festgehalten, z. B. auf einem Miro-Board. Insgesamt kann das Team die volle Bandbreite an Vorteilen nutzen, die eine ausgereifte digitale Infrastruktur mit sich bringt.
Nachteile
Aber machen wir uns nichts vor, das Remote-Setting hat auch Schwächen. Du fühlst den Raum nicht, die Stimmung der Menschen lässt sich schwer erspüren. Es braucht große Mühe und Feingespür, um alle motiviert zu halten und sicherzustellen, dass keiner aussteigt. Ob ein Teilnehmer gerade niedergeschlagen ist, Geburtstag hat, oder die Welt umarmen könnte, all das passt nicht durchs WLAN. Nicht umsonst finden Design Sprints normalerweise in Präsenz statt, das ist Teil der Methode. Die Dynamik, die sich durch die Direktheit im Raum ergibt, lässt sich nur schwer online abbilden.
Nützliche Tools
Wir benötigen also die besten Werkzeuge, die wir kennen, und selbst dann ist es eine Herausforderung. In unserem Fall wurde die Nutzung von Miro und Google Meet oder Zoom in den speziellen Coronazeiten auch über übliche Sicherheitsgrenzen hinaus sehr schnell freigegeben. Manchmal muss die Infrastruktur des Kunden integriert werden, was in der Regel aber kein Problem darstellt.
Wichtigster Grundsatz: Flexibilität
Generell gilt beim Remote Design Sprint: Scheu dich nie, unbekannte Wege zu gehen und auch die erprobtesten Methoden in Frage zu stellen. Natürlich hast du ein Framework, das die Leitplanken vorgibt, aber bleibe dennoch flexibel und reagiere spontan. Jedes Projekt bringt per se schon seine eigenen Anforderungen mit. Es ist zudem immer richtig, im Kontext des Kunden zu denken und kein starres Korsett vorzugeben (auch wenn es natürlich einen gewissen festen Rahmen gibt). Hinzu kommen nun ganz neue Bedingungen, wenn das Team nicht gemeinsam vor Ort ist. Bei unseren 16 Design Sprints standen wir z. B. vor diesen Herausforderungen:
- Wir starteten mit zwei großen Teams von jeweils zwölf Teilnehmern, die noch nie zuvor miteinander gearbeitet hatten. Zum Glück konnten wir mit zwei Moderatoren pro Sprint arbeiten und uns so die Aufgaben gut aufteilen.
- Gleichzeitig hatten wir noch einen Geheimauftrag: den Teams die Prinzipien des Design Thinking nahebringen.
- Die dritte Challenge: ein eher schwaches Video-Call-Tool. Die Kameras der Teilnehmer waren daher zu 99 % aus!
Wir mussten also schnell lernen, die Prozesse im Sinne der Aufgabe und der Teamstruktur biegsam zu gestalten. Dazu haben wir den kompletten Methodenkoffer aufgemacht und das Design Sprint Template von AJ&Smart jede Woche angepasst.
20 Tipps für deinen Remote Design Sprint
Nun ans Eingemachte: Was haben wir an unserem üblichen Design-Sprint-Vorgehen geändert, und warum? Hier kommen unsere besten Tipps:
2 Moderatoren
Remote werden mindestens zwei Personen benötigt, die den Prozess leiten, sich um die Teilnehmer kümmern, Fragen beantworten – denn all dies ist virtuell schwieriger und kostet mehr Zeit.
Ich-bin-bereit-Button, Pause-Button und Mauspause
Gerade wenn die Kameras nicht durchgehend an sind, brauchst du andere Arten von visuellem Feedback. Auf dem Ich-bin-bereit-Button landen die Mauszeiger, wenn es los- oder weitergehen kann, auf dem Pause-Button melden sich die Teilnehmer nach einer Pause zurück. Auf der Mauspause sammeln sich alle Mauszeiger, damit sie nicht störend im Bild herumschwirren.
Rednerreihenfolge festlegen
Das geschieht am Anfang jedes Tages. Wir Moderatoren verschieben die Richtung auch mal zwischendurch, damit es nicht langweilig wird.
Vorstellung
Alle Teilnehmer werden einzeln kurz vorgestellt, und zwar mit einem Foto – denn auf die Kameras ist nie Verlass.
Workshop 1x1
Kurz und klar erklären wir, wie ein Remote-Workshop funktioniert und was die Teilnehmer beachten sollten.
Check-in
Ganz wichtig! Hier wird angezeigt, mit welcher Stimmung jede und jeder heute in den Workshop geht. So können sich die Moderatoren besser auf das Team einstellen.
Real life first
Im Gegensatz zum Präsenz-Sprint befindet sich remote jeder Teilnehmer in seiner eigenen Umgebung. Diese hat Vorrang. Man darf dem Postboten öffnen oder das Baby beruhigen.
Roller Coaster
Am Ende jeden Tages geben die Teilnehmer an, wie sie sich bei den unterschiedlichen Aufgaben gefühlt haben. Der Moderator sieht genau, wenn es jemandem nicht gut geht und kann auch persönlich auf sie oder ihn eingehen.
Spiele
Aufwärmübungen und kleine Spiele zwischendurch sind wichtig. Sie schaffen gegenseitiges Verständnis und Empathie, erhöhen die Konzentration und sorgen für eine gute Atmosphäre.
Spickzettel
Zentrale Infos, z. B. bei der Team Challenge, sind auf kleinen Spickzetteln für alle sichtbar. Vor Ort ist das nicht nötig, da fragt man einfach mal schnell den Moderator. Das kostet remote aber zu viel Zeit.
Hausaufgabe
Da die Sprint-Tage vor dem Bildschirm noch anstrengender sind als live in einem Raum, geben wir den Teilnehmern einen Teil der To-dos als Hausaufgabe mit, die sie ganz in Ruhe für sich erledigen können.
Lightning Demo
Zu Beginn von Tag 2 darf jeder Teilnehmer seine Lieblings-App oder eine andere digitale Anwendung vorstellen, einfach per Screenshot vom Handy aufs Miro Board. Das Team bekommt ein Kribbeln in den Fingern, will selbst loslegen und was Tolles bauen.
Benotung
Um eine Idee zu bewerten, verteilte ursprünglich bei uns jeder Teilnehmer Dots. Deren Anzahl allein war ausschlaggebend. Wie aber soll man ablesen, ob nur das Design gut ankommt, oder die Idee an sich, oder beides? Wir haben das Bewertungssystem komplexer gemacht: Es gibt eine Designnote, eine Inhaltsnote und je eine Extranote vom PM/Experten und vom PO/Entscheider.
Crazy 8
Bei dieser Kreativmethode wachen garantiert alle auf! Und sie liefert schnell kreativen Output. In 8 Minuten skizziert jeder Teilnehmer 8 Lösungsansätze. Die Scribbles werden einfach als Handyfoto aufs Miro Board geladen.
Storyboards weglassen
Normalerweise fertigen die Teams an Tag 3 Storyboards zu den Wireframes an, die an Tag 2 erstellt wurden. Das hat aber im virtuellen Setting nicht genug Wert gebracht und war zu starr, deshalb haben wir schnell darauf verzichtet. Für die Wireframes sind übrigens die Mockups von Miro eine super Sache.
Prototyping Job Board
An Tag 3 verteilen wir fürs Prototyping und Testing klare Rollen innerhalb des Teams: Builder, Sammler, Texter, Stitcher und Interviewer. Jeder Job kann als offen oder erledigt gekennzeichnet werden. Ein separates Team erstellt die Interviewfragen für den nächsten Tag.
Testpersonen
Wir befragen remote meist ca. fünf Testpersonen aus dem Freundes- und Familienkreis der Teammitglieder.
Wand der Wahrheit
Das Organisationstool von AJ&Smart, das wir im Laufe der Zeit etwas angepasst haben, erleichtert die Dokumentation von Interviews immens. Durch die gleichzeitige Mitschrift auf einer “Wand” werden Dubletten vermieden und unterschiedliche Perspektiven auf eine Aussage direkt in einem Cluster zusammengefasst. Denn in der langen Serie von Sprints haben wir immer wieder unterschiedliche Blickwinkel auf eine Aussage der Testnutzer erlebt. Die Wand der Wahrheit ist auch eine hervorragende Grundlage für die Testplanung und die Learning Cards. Ebenfalls super: Die Wand ist ein offenes Format, alle können mitmachen.
Test Card und Learning Card
Schon im ersten Remote Design Sprint war klar, dass es neben der einfachen Darstellung des Prototypen und einiger Anekdoten aus dem Nutzerfeedback ein Format geben muss, mit dem sich die Ergebnisse des Sprints schnell zusammenfassen lassen. Wir betrachten den Sprint daher als Experiment im Sinne der Methodik von Strategyzer: Wir nehmen uns die Zeit, am Ende des ersten Tages eine Test-Card auszufüllen und am Ende des 4. Tages eine Learning-Card. Dies hilft dem Team, zu Beginn eine gemeinsame Vorstellung zu entwickeln und scharf zu beschreiben, was bearbeitet werden soll, nebst der Definition von messbaren Erfolgen. Am Ende des Sprints unterstützt die Learning Card die Teams dabei, ihre Erfahrung aus dem Testing von der “Wand der Wahrheit” zu extrahieren und auch hier Einigkeit zu erzielen.
- Learning Card (zum YouTube-Video von Strategyzer: Capture (Customer) Insights and Actions with the Learning Card)
- Test Card: (zum YouTube-Video von Strategyzer: Validate Your Ideas with the Test Card)
Sailboat
Wenn ein Remote Design Sprint in einer zweiten Woche weitergeführt wird, darf jeder erstmal seine Post-its zücken: Wir starten mit der Retro-Methodik Sailboat. Metaphorisch schauen wir uns die Situation des Teams an: Wären wir ein Segelboot …
Fail better
Bei alldem solltest du nicht vergessen: Die Situation ist ganz neu, es lebe Trial & Error. Auch wir haben Fehler gemacht. Diese drei zum Beispiel musst du nicht unbedingt nachmachen:
Parallele Sprints
Wir haben ausprobiert, in zwei Teams parallel an einem verbundenen Thema zu arbeiten. Die Aufgabe: Baut an Tag 3 einen gemeinsamen Prototypen und nutzt die Kraft der doppelten Anzahl an Testnutzern. All das sollte auch für mehr Spaß und frische Ideen aus den Parallelteams sorgen. Die Begeisterung hielt sich aber in Grenzen, irgendwann wollten die Teams lieber ihr eigenes Ding machen. In der Retrospektive ist uns klar geworden, dass diese Sprints eben nicht auf der grünen Wiese stattfanden, sondern im SAFe-Kontext. Beide Teams sahen ihr Ziel darin, in Form einer eigenen ersten System-Demo Leistung zu zeigen.
Zu schöne Prototypen
Weil wir gerade so im Flow waren, haben wir auch mal bis in die Nacht an einem besonders ausgefeilten Prototypen gebastelt. Und waren am nächsten Tag völlig platt. Das lohnt sich nicht.
Zu viel an sich reißen
Es passiert gerade den Moderatoren, dass sie die eigene Rolle überschätzen und zu viel selbst erledigen wollen. Das geht selten gut. Lieber dem Team vertrauen und eher Unterstützung anbieten, als Dinge ganz zu übernehmen.
Miro-Template
Wenn du dir unser Miro-Template anschauen möchtest, kannst du direkt in Miro schauen. Es kann dir in deinem Projekt als Inspiration dienen. In den meisten Fällen muss es jedoch für das jeweilige Projekt angepasst werden.
Fazit
Was für uns als Experiment mit unsicherem Ausgang gestartet wurde, war ein großer Erfolg. Unsere Teams waren voller Energie und haben mit einfachsten Mitteln erstaunliche Ergebnisse erzielt. Wir haben dabei viel gelernt. Das beginnt beim sauberen Timeboxing, geht weiter mit der verständlichen Erklärung der einzelnen Werkzeuge bis hin zum standardisierten Feedback am Ende jedes Sprint-Tages. Viel mehr noch als im regulären Design Sprint solltest du flexibel reagieren, Dinge im Verlauf anpassen und auch mal was weglassen. Bei allen Hürden ist das Format des Design Sprints auch remote absolut möglich und sinnvoll.