Nicolas öffnet für uns seine persönliche Trickkiste des digitalen Produktmanagements. Er verrät, wie man Stakeholder auf seine Seite bringt, Teams aufbaut und welche Vorteile Remote-Workshops haben können. Und warum muss er in seinem Job eigentlich so viel reden?
Dr. Nicolas Neubauer
Head of Product Shopping Experience bei Kaufland e-commerce
Die “Produkt-Denke” hat Nicolas schon im Wilden Westen der frühen iPhone-Jahre für sich entdeckt. Nachdem er im Studium seine ersten Apps auf den Markt brachte und anschließend in eine IT-Beratung ging, stieg er in einem Start-up tief in die Produktentwicklung ein. Bevor er seinen neuen Posten als Head of Data Science bei real.digital antrat, unterstützte er mehrere Jahre PwC bei der Entwicklung digitaler Tools.
Erfolgsfaktoren in der Produktentwicklung
Nicolas, du hast schon jede Menge digitale Produkte auf den Weg gebracht. Worauf kommt es in der Startphase der Produktentwicklung an?
Mittlerweile sind technische Produkte extrem komplex und umfangreich. Gerade in großen Unternehmen gibt es oft die verschiedensten Stakeholder, die bei einer Produktidee mitreden möchten – und sollen. Ob fachliche oder technische Experten, Betreiber, Security, Legal, Compliance, dass all diese Leute miteinander reden, ist ein Balanceakt. Der mögliche Output ist jedoch sehr wertvoll. Für mich hat sich gezeigt, dass es am besten ist, gleich am Anfang möglichst viele ins Boot zu holen und zu erklären, was man vorhat. Kommunikation ist gerade zum Start alles. Wenn es dann an die eigentliche Projektarbeit geht, müssen natürlich nicht sofort alle involviert sein.
Wie können UX-Methoden helfen?
Etwa Workshops oder Design Sprints sind extrem nützlich beim Start, aber UX zieht sich durch die komplette Produktentwicklung, ist dabei sogar oft beständiger als die Technologie. Die Frage “Tun wir das Richtige für unsere User?” steht kontinuierlich im Raum, während die Technologie zu einem gewissen Grad auch austauschbar ist. In sehr großen Vorhaben mit strategischer Relevanz ist es wichtig, dass man früh mit Menschen spricht, die das Produkt am Ende benutzen. So findet man heraus, ob man eigentlich auf dem richtigen Pfad ist. Denn das Schlimmste, was passieren kann, ist ein Big Bang, wenn das fertige Produkt auf den User losgelassen wird: Man hat viel Geld und Zeit investiert und ist im Grunde trotzdem eine Wette eingegangen, obwohl man auf Daten hätte zurückgreifen können.
Start-up vs. Konzern
Stößt die Start-Up- bzw. UX-Mentalität auch auf Gegenwind, gerade in größeren Unternehmen?
Klar, teilweise kommt es zum Clash mit klassischen Konzernstrukturen. In großen Unternehmen gibt es verschiedenste Interessen, auch politische Machtverhältnisse, und der Budgetverantwortliche ist meist nicht der Projektleiter. Ein Mittel, das sich für mich bewährt hat: über die Risikominimierung und Ersparnis gehen. Was sind die Kosten für die Entwicklung eines Features, wenn wir nicht wissen, ob es auf dem Markt angenommen wird, versus die Kosten für einen Test. Ähnliches gilt für die Zeitplanung: Wie viel Zeit muss für frühe Tests investiert werden und wie viel Zeit kann es kosten, ein ungetestetes Feature später zu reparieren? Aber es ist immer eine harte Argumentation. Mir geht es ja auch manchmal so: Man ist im Rausch seiner eigenen Produktidee und will alles schnell fertig bekommen – bevor man die Gefahr eingeht, dass es jemandem doch nicht gefällt. Aber allgemein gilt, der hohe ROI beim UX-Research ist ein gutes Argument, um Stakeholder zu motivieren.
Wie gehst du damit um, wenn das Team in die falsche Richtung läuft und eine Kehrtwende nötig ist?
Hier spielt Kommunikation wieder die wichtigste Rolle, gerade wenn man eine schlechte Nachricht hat, im schlimmsten Fall einen Projektabbruch. Die Menschen, die an einem Produkt arbeiten, haben viel Zeit und Herzblut reingesteckt und sind in der Regel hochmotiviert. Mit ihnen muss man wertschätzend reden und die Gründe für eine Entscheidung deutlich machen. Idealerweise kann man Daten hinzuziehen und zum Beispiel anhand eines Testergebnisses zeigen, dass ein Feature zu selten genutzt wird. Quantitative Daten sind perfekt, aber auch qualitative helfen, die Situation für das Team nachvollziehbar zu machen.
Team
Welche Erfahrungen hast du beim Thema Staffing für deine Teams gesammelt?
Die Teamkoordination ist ein wichtiger Prozess. Wer fängt wann mit welcher Aufgabe an? Die Abwägung ist immer: Startet man erstmal mit Produktdesign und UX und geht die Umsetzung später an oder beginnt man das Projekt erst, wenn das Team vollzählig ist. Die Frage hängt auch von den Menschen ab, die am Ende zusammenarbeiten. In kleineren Unternehmen ist ein unvollständiges Team oft ein geringeres Problem, weil man sich schon kennt und vertraut. Es kann auch nützlich sein, wenn UX- und Designprozess etwas Vorlauf haben. In der klassischen Iteration bzw. im Sprint ist an Tag 1 für viele Gewerke noch nichts zu tun, weil es noch kein Interface oder Design gibt. Da lohnt es sich, nach Kanban zu arbeiten und den UX-Prozess als eine Art Workstation zu sehen, die ihr Gewerk erstmal zu einem gewissen Grad abschließen muss. Das muss deshalb kein Silo sein, es kann trotzdem schon ein Austausch mit anderen Gewerken stattfinden. Manchmal läuten natürlich beim Wort “Vorlauf” direkt die Alarmglocken, es klingt nach Wasserfallmodell. Letztendlich muss eine Balance geschaffen werden. Auch im agilen Prozess kann ein Vorlauf eingebaut werden, damit nicht so viel Wartezeit entsteht.
Wie groß wäre dein ideales Team und welche Skills benötigst du?
Das ist pauschal schwierig zu sagen und auch nicht konstant während eines Projekts. Am Anfang braucht man andere Skills als später, wenn das Produkt schon gereift ist. Aber generell ist es besser, mit einem kleineren Team zu starten und es dann nach Bedarf zu erweitern. So gibt es zum Start schnellere Kommunikationswege und Entscheidungen. Wenn man größere Gruppen mit vielen Schnittstellen untereinander zusammenstellt, kann auch ein Experte fürs Prozessmanagement sinnvoll sein, ein Scrum Master, Agile Coach oder Prozesswächter.
Wenn du die internen Ressourcen im Team erweitern möchtest, worauf legst du bei externen Dienstleistern wert?
Das hängt vor allem vom Setting ab:
- Unterstützung bei einem konkreten Thema: Die einfachste Situation ist: Ich brauche einen Experten für eine klar definierte Aufgabe. Da ist das Know-how das Wichtigste.
- Kollaboration mit Start-ups: Hier zählen vor allem Ehrlichkeit und klare Kommunikation. Was kann man und was nicht. Vor allem kleinere Start-ups neigen dazu, ihr Können überzuverkaufen. Doch es muss noch lange kein Deal-Breaker sein, wenn nicht alles geliefert werden kann. Blöd ist nur, wenn erst im Prozess Lücken offensichtlich werden.
- Längere Zusammenarbeit: Teamfit, Mindset, aber natürlich auch das Skillset müssen stimmen. Hier geht es eher in Richtung Bewerbungsverfahren wie bei einem Festangestellten. Man braucht ein transparentes Bild von der Person, sonst kann es auf gegenseitige Zeitverschwendung hinauslaufen.
Remote-Arbeit
Wie stehst du zu Remote-Arbeit? Oder etwas spitzer, hast du Erfahrung, wie Workshops remote ablaufen können?
Gerade Events, bei denen man sich von vielen Menschen Input wünscht, sind remote eine größere Herausforderung. Auch der Planungsaufwand kann höher sein. Was ich besonders wichtig finde, ist das richtige Tooling. Nicht jedes Videokonferenz-Tool eignet sich für Remote-Workshops. Oft hilft eine Analogie zur echten Situation: Jemand läuft ans Whiteboard und klebt einen Zettel daran. Bei UX&I arbeitet ihr ja viel mit Miro. Das hat zum Teil sogar ganz charmante Vorteile gegenüber analogen Workshops, weil man auch Dinge machen kann, die in einem klassischen Workshop-Format vor einem Whiteboard nicht gehen. Beispielsweise können nicht 20 Leute gleichzeitig Zettelchen verschieben, umsortieren oder clustern. Manchmal sind einige Teilnehmer im klassischen Workshop auch passiver oder schneller abgelenkt. Im Remote-Setting kann man zwar schwieriger anfangen, mit seinem Nachbarn zu quatschen, aber dafür sind E-Mail, Slack oder sonstiges nur einen Klick entfernt. Außerdem gibt es den Effekt, dass ab einer bestimmten Gruppengröße keiner mehr so richtig das Wort ergreifen möchte. Man adressiert ja auch immer direkt alle und eben nicht nur seinen Sitznachbarn, quasi als würde man sich virtuell vor die Gruppe stellen. Dafür habe ich noch keine gute Lösung gesehen.
Apropos Tools, gibt es eins, über das du dich in letzter Zeit geärgert hast? Und eins, das du richtig gut fandest?
Zur Weißglut hat mich schon mal die Hue-App für “smarte” Beleuchtung gebracht. Ich wollte einen Account für meine Eltern einrichten, aber der Service war wohl gerade nicht verfügbar. Es wurde jedoch keine brauchbare Fehlermeldung gezeigt, sondern nur wieder die Eingabemaske. Wie meine Eltern die Einrichtung selbst hätten schaffen sollen ist mir nicht klar. Begeistert hat mich ein Feature von Spotify, das ich ganz zufällig entdeckt habe. Es schlägt einem passende Tracks vor, die man seinen Playlists hinzufügen kann. Das hat intuitiv genauso funktioniert, wie ich es erwartet habe.
Du bist erst vor kurzem von PwC zu real.digital in ein ganz anderes Umfeld gewechselt. Was nimmst du mit Blick auf deine UX-Erfahrungen mit?
Bei real.digital werde ich als Head of Data Science für eine horizontale Funktion verantwortlich sein. Ich denke, dass ich in meiner Zeit bei PwC sehr viel über Teamführung und Produktmanagement gelernt habe, wofür ich auch sehr dankbar bin. Bei real.digital werde ich auf jeden Fall versuchen, möglichst eng mit den Produktmanagern zusammenzuarbeiten. Außerdem ist gerade Data Science eine Disziplin, die sehr zeitaufwendig und damit teuer ist. Gerade hier lohnt es sich meiner Meinung nach, früh Hypothesen zu testen, bevor man viele Personentage in die Entwicklung komplexer Modelle investiert. Außerdem nehme ich natürlich meine guten Erfahrungen mit UX&I mit (und ich wurde nicht gezwungen das zu sagen ;)) und würde mich freuen wenn wir in einem Projekt wieder zusammenfinden.
Vielen Dank für deine Tipps und Erfahrungen, Nicolas.