Am letzten Freitag des Monats halten wir regelmäßig inne und veranstalten nach unserem Team-Frühstück eine Retrospektive mit dem gesamten Düsseldorfer Team.
Wir möchten herausfinden, wie wir besser werden können. Schritt für Schritt. Wir decken Probleme auf und gehen diese gemeinsam an. Wir heben Erfolgreiches und Gelerntes hervor und machen es für alle sichtbar und greifbar. Einer für alle, alle für einen.
Die Moderation rotiert in der Regel unter einer Handvoll UXIs (so bezeichnen wir uns liebevoll selbst). Manchmal moderiert jemand auch ganz spontan und das ist auch in Ordnung. Wir machen das schließlich schon seit Jahren, kennen und schätzen uns.
Doch vor einigen Wochen hat sich vieles aufgrund der Pandemie verändert. Neben alltäglichen Terminen, Workshops und vielen anderen Ritualen, findet nun auch unsere Retro digital statt. Und so ganz spontan funktioniert es dann nicht wirklich mit einer achtsamen und zielorientierten Moderation.
Eine Remote Retro für ganz UX&I
Nachdem wir im März unsere erste Remote Retro nur mit dem Düsseldorfer Team gemacht hatten, beschlossen wir im April die Retro mit der gesamten UXI-Familie zu veranstalten, also gemeinsam mit unserem Team aus München. Schließlich arbeiten wir alle aus unseren Home Offices heraus und die Standortgrenzen verschwimmen zunehmend. Die ganze UX&I-Familie in einer Retro, eventuell 30 Teilnehmer. Nicht alle davon kennt man von der alltäglichen Arbeit so gut wie die Kollegen im eigenen Büro und Projekt. Das ist eine echte Herausforderung für die Gestaltung einer zielführenden Retro. Ich hatte Lust diese zu gestalten und zu moderieren.
Auch wenn ich bereits viele Retrospektiven in der Vergangenheit moderiert habe, sowohl mit Teams in einem Raum als auch remote mithilfe digitaler Tools, diese Retro fühlte sich noch einmal anders an. Noch bevor sie freitags eingeläutet war. Alle sind zu Hause. Wir hatten schon einige Wochen Home Office auf dem Buckel und kämpften entweder mit dem Alleine sein oder auch mit dem mehrmals täglichen Sprintwechsel zwischen Kinderbetreuung und Arbeit.
Wie bereite ich eine solche Retro vor? Wie schaffe ich einen vertrauten Raum in dem alle ausreichend zu Wort kommen und gehört werden? Wie funktioniert eine lebhafte Diskussion mit bis zu 30 digitalisierten Gesichtern? Reichen uns knapp zwei Stunden? Wie sorge ich dafür, dass wir zu brauchbaren Action Items kommen? Viel Fragen, die sich zusammen fassen lassen mit: „Wie gestalte ich eine gute Remote Retro für uns UXIs?“
Ich musste sie kleinteiliger vorbereiten als sonst. Das bedeutet viele Details von Anfang an festlegen, Spielregeln definieren, ein passendes Format finden und anpassen, Zeitfenster strikter formulieren und und und.
Erst im Nachhinein ist mir bewusst geworden, wie viel Zeit in diese Vorbereitung geflossen ist. In etwa die gleiche Zeit, wie für die Retro als solche. Heute bin ich allerdings sehr froh darüber, mir diese Zeit genommen zu haben. Die Retro hat nicht nur für uns als gesamtes Team wertvolle Ergebnisse zutage gebracht, auch das Feedback an mich selbst hat mich noch lange danach sehr gerührt. Danke noch einmal dafür an das gesamte Team.
Wenn du auch in den Genuss kommen solltest eine Remote Retro mit einem überdurchschnittlich großen, erfahrenen und diversen Team (unter besonderen Umständen) zu moderieren, dann helfen dir vielleicht die folgenden Experimente und Erfahrungen weiter.
Vorbereitung für eine Remote Retro
Einiges, was ich für diese Retro vorbereitet hatte und wie ich dazu gekommen war möchte hier aufgreifen und kurz beschreiben. Manches ist dir wahrscheinlich bekannt und ein „Standard“ oder „Basic“ für eine Retrospektive. Allerdings ist es gerade bei diesen allseits vermeintlich bekannten Elementen wichtig, sie in besonders stressigen, hektischen oder unsicheren Zeiten explizit, also noch einmal sichtbar zu machen.
Vertrauen als Grundlage für das, was passieren wird
Zwei Dinge sind mir stets sehr wichtig bei einer Retro. Als Moderator und Teilnehmer gleichermaßen: Ein geschützter Raum und eine wertschätzende Grundhaltung aller teilnehmenden Personen.
Ersteres decken wir meist mit der sogenannte Vegas-Regel ab. „What happens in Vegas, stays in Vegas.“ Ich ergänze sie gerne mit dem Zusatz „alles was wir hier besprechen bleibt unter uns, außer wir beschließen gemeinsam mit einem konkreten Thema nach außen zu gehen“. Meist gehen wir implizit davon aus, dass der Rahmen der Retrospektive vertraut ist. Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, dass Wirkung zeigt, dies explizit auszusprechen oder an das (digitale) Whiteboard zu hängen.
Letzteres, eine wertschätzende Grundhaltung aller Personen gegenüber ist etwas, was wir meist vermuten. Aber wir wissen auch, dass Probleme und Konflikte meist mit Menschen zu tun haben. Damit wir allerdings alle zu einem guten und konstruktiven Ergebnis kommen und Lernen aktiv zulassen, ist es wichtig, den Fokus auf die Handlung, den Prozess oder Ähnliches zu legen. Ich formuliere dies meist mit einem eigenen Satz, den ich ebenfalls sichtbar mache. „Wir gehen stets davon aus, dass alle im Team mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln und Information zu jeder Zeit die beste Entscheidung für das Team und das Produkt treffen.“
Das Sichtbar machen dieser zwei Regeln bzw. Grundhaltungen die ich hier beschreibe sind für mich essentiell für die Vertrauensbildung und -stärkung.
Gleich wie viel Zeit wir uns nehmen, es ist nie genug
Unsere Retro war für 110 Minuten angesetzt. Das klingt nach viel Zeit, ist es aber nicht.
Wer bereits an einer Retro teilgenommen hat, der weiß wie schwer es ist, die ersten Sekunden oder wenige Minuten effizient dafür zu nutzen in Fahrt zu kommen. Remote ist das eine ganze Ecke komplexer. Wir finden uns nicht einem Raum mit Whiteboard, Pinnwand und anderen haptischen Materialien wieder. Jeder muss meist mindestens 2 Tools zum laufen bekommen, Video Chat und ein digitales Whiteboard (oder ähnliches Hilfsmittel für die Kollaboration). Wir nutzen Google Meet und miro.
In der Regel plane ich immer etwa 5% der Zeit für das Ankommen und weitere 5% als Puffer. Ich habe noch keine Retro erlebt in welcher die Teilnehmer nicht doch noch das eine oder andere Thema tiefer beleuchten wollten. Diese Puffer habe ich auch hier vorgesehen. Da mir 5:30 Minuten als zu viel Zeit vorkam entschied ich mich für exakt drei Minuten.
Bleiben 104 Minuten für die eigentlichen fünf Phasen einer Retro:
- Gemeinsam ankommen
- Daten sammeln
- Einsichten gewinnen
- Maßnahmen beschließen
- Gemeinsam abschließen
Die Phasen zwei und drei sind häufig die zeitintensivsten, denn hier passiert der eigentliche Erkenntnisgewinn und Austausch. Aber bei 24 Teilnehmern (so viele waren wir an diesem Freitag tatsächlich) muss jeder auch Raum zum Ankommen erhalten (Phase eins).
Also versuchte ich die Zeiten noch granularer zu gestalten. Für den Check-in (Phase eins) habe ich folgende Vorgabe gemacht:
- 90 Sekunden für alle: Alle Teilnehmer beschriften ihren Zettel auf dem Board in miro und hängen diesen in die entsprechende Spalte, die ihr Befinden am Besten beschreibt (Sonne, Wolken, Gewitter)
- 20 Sekunden für jeden: Reihum darf jeder einen Satz zu seinem persönlichen Befinden an dem Morgen äußern. Nicht nur Berufliches, auch unser Privatleben prägt unsere Stimmung.
In dieser Granularität habe ich alle Phasen durchgetaktet und durchgespielt. Für den Fall, dass wir 20 oder doch 30 Personen sein werden, sowie für den Fall, dass es hier und da auch mal intensiver wird. Gefühlt wie auch rechnerisch ging das auf.
Spielregeln sind für alle da
Damit wir die Zeitfenster effizient nutzen können und damit der Gedanke einer vertrauten Umgebung remote gut funktionieren kann, hatte ich der Retro einige Spielregeln zugrunde gelegt. Drei dieser Spielregeln möchte ich dir hier kurz erläutern.
Wir legen gemeinsam eine Rednerreihenfolge fest. Das machen wir seit geraumer Zeit in nahezu allen Remote Terminen und Workshops bei denen die Anzahl der Teilnehmer nicht einfach zu überschauen ist oder wenn die Kamera aus bestimmten Gründen von (einzelnen) Teilnehmern nicht genutzt werden kann. In dem Fall ordnen wir uns beim Eintreffen auf dem entsprechenden Frame im miro Board im Uhrzeigersinn ein.
Gibt es im Verlauf des Termins oder Workshops Diskussionsbedarf, dann darf jeder Teilnehmer entsprechend der festgelegten Reihenfolge einen Beitrag zur Diskussion leisten. Wer nichts sagen möchte gibt das Wort direkt weiter.
Diese Rednerreihenfolge hat den Vorteil, dass auch stillere Teilnehmer oder solche, die sich nicht mittels einer Kamera sichtbar machen können, angemessen zu Wort kommen können.
Damit kommen wir zur zweiten Regel, dem Prinzip der kunstvollen Teilnahme, auch „Artful Participation“ genannt. Im Kern geht es darum, dass jeder Teilnehmer sich folgende Frage beantwortet: „Ist mein Verhalten der beste Beitrag, den ich zu dieser Zusammenarbeit im Moment leisten kann?“ Damit wir nicht abschweifen und fokussiert voran kommen, ist es wichtig, dass alle Teilnehmer diese Selbstverpflichtung annehmen und danach agieren.
Bei manchen Remote Terminen kann es vorkommen, dass Teilnehmer ihre Kamera nicht anschalten wollen oder können. Dafür gibt es Gründe. Auch mir ist manchmal nicht danach, die Tonspur muss dann ausreichen. Bei einer Remote Retro allerdings ist es wichtig, alle seine Gegenüber zu sehen. Gestik und Mimik sind besonders dann wichtig, wenn wir herausfinden möchten, wo der Schuh vielleicht drückt oder wie stark vielleicht ein Ereignis eine bestimmte Person bedrückt. Das schaffen wir ohne Blick in das Gesicht und die Augen nicht. In diesem Kontext empfiehlt mein Kollege Martin den Artikel „Grenzen der Online-Kommunikation: Zur Kommunikationspsychologie virtueller Coachings und Meetings“.
Welches Spiel macht uns alle zu Gewinnern?
Hast du dich schon einmal mit der Vielzahl an bekannten Retro-Formaten auseinandergesetzt? Der Retromat alleine listet schon mehr als 100 Aktivitäten. Was könnte eine geeignete Aktivität für uns sein? Welche führt zu einem guten Ergebnis für alle Teilnehmer?
Ich glaube es war das dritte oder vierte Format, welches ich mir überlegt hatte. Bei diesem hatte ich direkt das Gefühl, es bietet genug Raum zum Sammeln von Erfahrungen aus den letzten vier Wochen (Phase zwei) sowie einer anschließenden vertiefenden Diskussion (Phase drei) und auch der Erarbeitung möglicher Action Items (Phase vier). Es handelt sich um das Format „Lean Coffee“. In einer definierten Zeit sammeln Teilnehmer einzeln Themen über die sie sprechen möchten und stellen diese kurz vor. Alle haben eine fest definierte Anzahl an Stimmen und können diese auf die Themen verteilen. Die Themen werden entsprechend der Anzahl an Stimmen jeweils in einem festen Zeitfenster diskutiert. Wenn die Zeit der Session vorbei ist, ist Ende.
Das Format funktioniert natürlich nur mit einer gehörigen Portion Disziplin in einem solchen Rahmen. Also habe ich auch hier versucht einige Limitierungen zu setzen. Ich habe bspw. die Anzahl an Themen, die jeder einbringen darf auf zwei begrenzt, das forciert gewollt den Fokus. Auch die Zeitfenster für das Schreiben der zwei Themen und Präsentieren dieser waren stark begrenzt.
Ich habe mich aus mehreren Gründen für das Format Lean Coffee in unserer Remote Retro entschieden:
- Jeder darf und kann Themen auf die Agenda bringen. D.h., ich erhoffe mir ein breites Feld an Erfahrungen und Ereignissen sowie Themen, die mehrere betreffen.
- Wir können direkt bei der Vorstellung der Themen clustern und gewinnen so ein wenig Zeit.
- Jeder bekommt drei Stimmen, die er nach der Vorstellung auf alle Karten bzw. Cluster verteilen darf. Da wir die Themen mit den meisten Stimmen als erstes angehen, kommt automatisch das zuerst dran, was die meisten betrifft.
- Action Items können direkt im Verlauf der Diskussion zu einem Thema (vor-)formuliert werden. Jeder Teilnehmer weiß genau, wer das Thema auch nach der Retro in der Hand hält.
- Wenn wir gut durchkommen, dann schaffen wir locker fünf bis sieben Themen. Jedes Thema, welches wir besprechen ist wertvoll und bringt uns voran.
- An Themen, die am Ende aus Zeitgründen nicht besprochen werden können, stehen Namen. Diese Personen können auch nach der Retro darauf angesprochen werde.
Alles in allem denke ich, es ist ein sehr flexibles und dankbares Format für eine solche Retro, die wir das erste Mal veranstalten und bei der wir uns als großes ganzes Team auch noch einmal finden mussten. Und, meine Hoffnung war wie immer, dass jeder aus der Retro mit einem für sich guten Gewinn gehen kann.
Vorbereitung … check. Und nun?
Soweit ein Einblick in meine Vorbereitung der ersten Remote Retro mit der gesamten UXI-Familie. Du siehst, als Moderator oder Scrum Master haben wir sehr viele Gestaltungsmöglichkeiten, die wir im Vorfeld einer Remote Retrospektive erarbeiten können. Sei es durch klare Spielregeln, das Formulieren von gewünschten Grundhaltungen, einem angepassten Format oder unterschiedlichen vertrauensstiftenden Maßnahmen.
Wenn du Fragen, Feedback oder gar weitere Anregungen hast, dann kommentiere gerne diesen Artikel auf Twitter. Ich freue mich auf den Austausch zu dem Thema.
Bestimmt möchtest du auch wissen, wie die Remote Retro als solche gelaufen ist, wie es mir mit der Moderation erging, ob alles „nach Plan“ gelaufen ist oder wie wir bspw. unser miro Board gestaltet und genutzt haben. Darüber schreibe ich in den kommenden Tagen einen weiteren Beitrag.