In den letzten Jahren durften wir immer mehr Deep-Tech-Unternehmen auf dem Weg zu nutzerzentrierten Produkten und Geschäftsmodellen begleiten. Deep Tech, das heißt meist: terra incognita. Völlig neue Domänen, spezialisierte Themenfelder, hochkomplexe Funktionalitäten. Zunächst viele Fragezeichen bei Nutzer*innen, Investor*innen und auch bei uns. Gut, dass UI Design schnell ein erstes Gefühl für mögliche Lösungen und Visionen des Produktes schaffen kann.
In diesem Artikel plaudern wir aus dem Nähkästchen. Du erhältst einen Einblick in die Bedeutung von nutzerzentrierten Interfaces bei komplexen Tech-Anwendungen und Praxistipps, wie das richtige Design deinem Produkt auf diversen Dimensionen Rückenwind verschafft.
Grundlegende Herausforderungen im Deep-Tech-Umfeld
Digitale Produkte von Techies für Techies – das bringt ganz besondere Startbedingungen und Anforderungen mit sich.
Zunächst mit Blick auf das Produkt selbst. Die Funktionsweisen sind in der Regel so tiefgehend und intellektuell herausfordernd, dass alles dafür getan werden muss, sie verständlich zu machen. Das gilt für die Nutzer*innen, aber auch für Investor*innen, interne Stakeholder und für diejenigen, die das Produkt kaufen. Diesen “Persona-Clash” solltest du dir bewusst machen: Die Nutzer*innen sind oft nicht die Käufer*innen. Das Design muss beide überzeugen.
Dafür müssen wir als Designer*innen das Produkt auch selbst erstmal verstehen. Das übliche Einlesen ins Marktumfeld ist naturgemäß nicht so leicht, wenn es den Markt noch nicht gibt. Auch die Frage “Wie machen’s andere” läuft ins Leere, auf Best Practices kann man bei komplett neuen Geschäftsmodellen nicht zählen. Das gilt übrigens auch für das Wording. Termini und Bezeichnungen müssen erstmal selbst definiert und dann konsequent angewandt werden, damit keine Unklarheiten und Missverständnisse aufkommen.
Deep-Tech ist zudem mit hoher Geschwindigkeit verbunden. Produkte müssen auf den Markt, bevor die Konkurrenz überholt oder die finanziellen Mittel ausgehen. Es wird schnell gedacht, getestet, gebaut, iteriert, umgeschmissen. Die Anforderungen ändern sich ständig, Funktionalitäten kommen hinzu oder fallen weg, das marktfähige Produkt sieht gerade im Start-up-Kontext nie so aus, wie der erste Entwurf.
Außerdem müssen innovative Produkte zeigen, dass sie ganz anders sind als der Platzhirsch mit der längst überholten Technologie. Sie müssen auffallen, sich absetzen und brauchen einen gewissen Coolness-Faktor.
Was macht gutes UI-Design aus?
Komplexität wird heruntergebrochen
Die essenzielle Aufgabe des Designs bei Tech-Anwendungen: Komplexität herunterbrechen und nutzbar machen. Das Wesentliche muss herausgearbeitet werden, Funktionalitäten müssen visuell auf den Punkt gebracht werden. Vielfältige Nutzerfragen müssen vorweggedacht und in der Anwendung beantwortet werden, ohne den Flow zu unterbrechen. Wo wir schon bei der nächsten Erkenntnis sind:
Produkte werden selbsterklärend und machen Spaß
Techies lesen keine Anleitungen. Die Anwendung muss so konstruiert sein, dass sie erkundet und selbstständig durchdrungen werden kann. Und: Entwickler*innen sind anspruchsvoll, die Produkte müssen nicht nur gut aussehen und einen reibungslosen Prozess ermöglichen, sie sollen auch Spaß machen. Das Design muss Lust machen, ein neues Produkt zu erleben.
Design ist innovativ und einzigartig
Möglichst frisch und modern sollte es ebenfalls sein, um den eigenen Innovationscharakter herauszustellen und sich als junger, smarter Player am Markt zu positionieren. So neu und einzigartig wie das Produkt soll auch das Design sein.
Schnelligkeit trifft Systematik
Besonders bei Start-ups muss das Design noch einen kleinen Spagat hinlegen: Es muss schon initial für die erste Idee zünden, aber auch, zumindest in den Grundlagen, das spätere Produkt tragen können. Schnell machen und systematisch vorgehen – beides findet im Wechselspiel statt.
Die Stolpersteine
Schema F
Erwarte keine Arbeit nach Briefing oder Lehrbuch. Ein Abackern von lang- oder mittelfristigen Plänen wird es nicht geben. Die schnelle Taktung fordert zu jedem Zeitpunkt Flexibilität – und Teamwork. Das Design muss eng mit der Entwicklung zusammenarbeiten, ein Alleingang ist hier noch mehr als in anderen Industrien zum Scheitern verurteilt.
Liebe auf den ersten Blick
Schon ganz zu Beginn des Start-up-Lifecycles – wenn es das Produkt noch gar nicht gibt und die Vision noch auf wackligen Beinen steht – wird schnell etwas Visuelles gebraucht. Es muss bereits so gut aussehen, dass es Investoren und Stakeholder anheizt. Oft werden dabei Features eingebaut, die noch weit weg sind und vielleicht (so) nie umgesetzt werden. Schnell wird aus dem ersten visuellen Aufschlag schon das UI-Design, obwohl sich das Produkt im Laufe der Zeit noch komplett wandeln wird.
Daher: Verliebe dich nicht in deine erste Lösung, auch nicht in die zweite oder dritte. Sie sind Wegwerfprodukte, von denen du dich ab einem gewissen Punkt konsequent trennen solltest. Geh bei den Iterationen bewusst nicht zu sehr ins Detail, reiß schnell Dinge an, Agilität ist essenziell.
Manchmal bietet es sich an, zweigleisig zu fahren: zum einen schnelle, schicke Designs zu entwickeln, die nach außen überzeugen, zum anderen nach innen das Produkt zu bauen. Bei unserem Einsatz für Instana brachte ein erstes UI mit einer interaktiven 3-D-Karte viele Leute dazu, sich für das Produkt zu interessieren und zu investieren. Die Konkurrenz hatte Tabellen – die vielleicht die Funktionsweise klar widerspiegelten, aber völlig spaßbefreit aussahen. Die 3-D-Karte, die anfangs das Aushängeschild und der Treibstoff bei Instana war, spielt heute nur eine untergeordnete Rolle im Produkt und wurde mittlerweile durch viele andere Funktionalitäten ergänzt.
Du bist nicht der Nutzer
Das Besondere bei Deep-Tech-Unternehmen: Die Gründer*innen haben fast immer selbst einen Tech-Hintergrund und sind potenzielle Nutzer*innen ihrer Produkte. Diese Doppelrolle kann bei der Designentwicklung schwierig sein. Hier sollte weiterhin das Mindset gelten: “Du bist nicht der Nutzer”. Auch wenn es verlockend ist: Hypothesen sollten nicht aus dem eigenen Empfinden heraus überprüft werden, sondern immer anhand valider Nutzertests.
Ein großes Herz für die Technik
Die Doppelrolle Gründer*innen = Entwickler*innen kann sich auch beim Funktionsumfang bemerkbar machen. Denn natürlich sind die Gründer*innen begeistert von ihrer Technik und wollen möglichst viel davon für die Nutzer*innen umsetzen. Dabei besteht jedoch die Gefahr, das Produkt zu überladen. In unseren Projekten wird vieles vom Scope durch das UX Design gekappt, im UI Design fällt dann noch mal einiges raus. Im Zweifelsfall ist die Devise: Wir lassen es erstmal weg, im Nutzertest fällt dann schnell auf, wenn was fehlt.
Strategien und Tipps
Pingpong mit den Entwickler*innen
Nachdem wir uns selbst so tief wie möglich in die Thematik und die Branche eingelesen haben, setzen wir uns mit den Gründer*innen bzw. Entwickler*innen zusammen und pflücken das Produkt gemeinsam auseinander. Wir versuchen, alle Details aus den Köpfen herauszubekommen und setzen uns dann daran, die einzelnen Elemente zu visualisieren. Das hilft allen, das Produkt besser zu verstehen, gezielt darüber zu reden und schon erste Fallstricke zu erkennen. Auch bei den Entwickler*innen sprudeln dann schnell Ideen.
Analogien finden
Meist müssen wir gerade im Start-up-Kontext Konzepte darstellen, die es so noch nicht gibt. Da ist es eine gute Strategie, Analogien zu Bekanntem aus anderen Lebensbereichen zu finden. Beispielsweise könntest du eine IT-Infrastruktur wie eine Stadt darstellen. Hilfreich ist es auch, eine spielerische Komponente reinzubringen. Bei Instana beispielsweise haben wir die Visionen der Gründer mit Hilfe von Lego visualisiert. Mehr dazu kannst du in unserem Showcase lesen: Von Solingen ins Silicon Valley: Instana & der Mega-Deal.
Designsystem
Auch wenn es schnell gehen muss: Es lohnt sich, Dinge systematisch und modular zu bauen, so dass sie einfach wieder neu zusammengesetzt werden können. Wir legen bei fast jedem Projekt so früh wie möglich ein Designsystem an. Dieses kann auch erstmal sehr rudimentär sein und im Laufe der Zeit mitwachsen. Welche Vorteile ein Designsystem hat und wie du es anlegst, kannst du im Artikel von Fabienne, Philipp und Markus nachlesen: “Designsystem: das Basislager für dein Produktteam”.
Design Studios
Wichtig ist es, im ganzen Team ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln und dieselbe Sprache zu sprechen. Dafür ist ein Design Studio (auch Crazy 8 oder Crazy 6 genannt) immer eine gute Idee. Durch schnelles Scribblen, Pitchen und Bewerten wird viel kommuniziert und in kürzester Zeit entstehen gemeinsame Lösungsansätze. Eine genauere Beschreibung der Methode inklusive PDF-Kochrezept findest du in Ninas Artikel “Deep Tech trifft Nutzerzentrierung: zwei griffige Methoden zum Durchstarten”.
Regelmäßige Rückblicke
Gerade durch die hohe Geschwindigkeit ist es manchmal schwer, den Überblick über die laufenden Prozesse zu behalten und sich bewusst zu sein, welche Schritte erledigt wurden und was das für die weitere Entwicklung bedeutet. Wir setzen uns daher gern alle zwei Monate für einen Rückblick zusammen. Wir schauen uns alles an, was wir in den letzten acht Wochen gemacht haben und wenden die gewonnenen Erkenntnisse dann auf das System an.
Keine Angst vorm Fragen und Ausprobieren
Je komplizierter es wird, desto wichtiger wird das Nachfragen. Gib dich nicht mit Halbwissen und Vermutungen zufrieden. Sobald dir etwas unklar ist, frag nach. Ebenso musst du keine Scheu haben, Dinge einfach mit gesundem Menschenverstand auszuprobieren. Es ist keine Schande, wenn es nicht funktioniert.
Fazit
UI Design muss in innovativen technischen Anwendungen besondere Anforderungen erfüllen. Die visuelle Darstellung muss es schaffen, komplexe Zusammenhänge und Funktionsweisen verständlich und, besonders in der frühen Start-up-Phase, für unterschiedliche Adressaten attraktiv zu machen. Das Design muss sich ständig dem sich wandelnden Produkt anpassen. Enge Zusammenarbeit, Fokus, Flexibilität und Neugier sind das A und O. Und genau das macht es für uns so spannend.