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Mit Bedürfniskarten alternative UX-Gestaltungsansätze entdecken

Nadine Pieper, Senior UX-Beraterin bei UX&I in Berlin
Von

Nadine Pieper

Illustration mit den wichtigsten Bedürfnissen: Kompetenz, Verbundenheit, Autonomie

Die psychologischen Grundbedürfnisse nach Sarah Diefenbach, Eva Lenz, Marc Hassenzahl sind eine Art Kompass für die Gestaltung von digitalen Produkten. Sie helfen dir zu verstehen, was Nutzer*innen auf einer tieferen Ebene dazu antreibt, dein Produkt zu benutzen. Die Bedürfniskarten sind ein tolles Tool, um diese grundlegenden Bedürfnisse zu analysieren.

In diesem Artikel möchte ich dir einen Überblick geben, wie du mit den Bedürfniskarten arbeiten kannst und wie sie dir gerade beim Benchmarking wichtige Erkenntnisse ermöglichen.

Die 8 (oder auch 7) Grundbedürfnisse

Psychologische Grundbedürfnisse sind bei jedem Menschen vorhanden und können prinzipiell erfüllt werden, auch durch digitale Anwendungen. Zu unterscheiden sind sie von „Nutzerbedürfnissen”, Anforderungen und Wünschen also, die Nutzer*innen an dein Produkt haben. 

Folgende menschliche Grundbedürfnisse sind auf den Bedürfniskarten beschrieben:

1. Stimulation: Dein Produkt wird benutzt, um ein Bedürfnis nach Anregungen und neuen Erlebnissen zu bedienen. Es sollte daher immer wieder die Neugier der Nutzer*innen wachhalten und unterhalten.

2. Autonomie: Hierbei geht es darum, Entscheidungen selbst treffen zu können. Den Nutzer*innen ist Freiheit und Eigenständigkeit bei der Benutzung des Produktes sehr wichtig.

3. Kompetenz: Bei der Interaktion mit dem Produkt möchten Nutzer*innen sich selbstwirksam und fähig fühlen.

4. Verbundenheit: Menschen benutzen dein Produkt, um sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen, oder um Personen, die ihnen wichtig sind, nahe zu sein.

5. Popularität: Menschen möchten anerkannt und geschätzt werden. Features, die es Nutzer*innen ermöglichen, ihre Erfolge oder Beiträge zu teilen und Anerkennung dafür zu erhalten, sprechen dieses Bedürfnis an.

6. Sicherheit: Menschen sehnen sich nach Sicherheit und Vorhersehbarkeit. Ein vertrauenswürdiges Produkt, das den Nutzer*innen das Gefühl gibt, in guten Händen zu sein, ist das A und O.

7. Bedeutsamkeit: Produkte, die es ermöglichen, einen Beitrag zu leisten oder sich einer Gemeinschaft anzuschließen, steigern die empfundene Bedeutung der eigenen Handlungen.*

8. Körperlichkeit: Dein Produkt gibt Nutzer*innen das Gefühl, gesund und fit zu sein.

*In einer spannenden Diskussion auf LinkedIn wurde kürzlich für die Streichung der Bedeutsamkeit aus der Gruppe der Grundbedürfnisse argumentiert. Bedeutsamkeit wird nun im UX-Thinking eher als abgeleitetes, nicht eigenständiges Bedürfnis gesehen.

Der Arc of Happiness: Autonomie, Verbundenheit und Kompetenz

Drei der Grundbedürfnisse sind am tiefsten in uns verankert: Jeder Mensch sehnt sich nach Autonomie, Verbundenheit und Kompetenz (daher „ARC": Autonomy, Relatedness und Competency). Diese Bedürfnisse sind intrinsisch, permanent und kulturübergreifend. Wenn dein Produkt also eins dieser drei bedient, hast du sozusagen leichtes Spiel. Es wird einfacher, Menschen für dein Produkt zu gewinnen.

Wie sehr die anderen vier Bedürfnisse für Menschen relevant sind, ist abhängig von sozialen oder demografischen Faktoren, aber auch vom Kontext der Nutzung eines Produkts.

Bedürfniskarten zur Analyse der psychologischen Grundbedürfnisse
Bedürfniskarten zur Analyse der psychologischen Grundbedürfnisse (www.experienceandinteraction.com/tools)

Wie sieht das in der Praxis aus?

Erfolgreiche digitale Produkte legen in der Regel einen klaren Fokus auf eines der psychologischen Grundbedürfnisse. Zur Verdeutlichung drei Beispiele:

Facebook sorgt für Verbundenheit: Der Grandseigneur der sozialen Medien befriedigt in erster Linie das Bedürfnis, sich zu vernetzen und mit anderen in Verbindung zu treten. 

Instagram setzt auf Popularität: Mit seinem Fokus auf Video- und Foto-Sharing bietet Instagram jede Menge Gelegenheit, sich nach außen positiv zu präsentieren, Likes zu sammeln und die eigene Beliebtheit zu spüren.

Spotify stimuliert: Der Audio-Streaming-Dienst gibt seinen Nutzer*innen nicht nur das, was sie explizit verlangen. Spotify nutzt jede Gelegenheit, Hörer zu inspirieren und zu unterhalten, beispielsweise über Empfehlungen, individuell erstellte Playlists, Videos, Künstler-Radio etc.

Wichtig dabei: Wie die meisten Anwendungen bedienen auch diese drei Beispielfälle nicht nur ein Grundbedürfnis. Facebook sorgt neben der Verbundenheit auch für Popularität, Spotify bietet auch Möglichkeiten, Verbundenheit zu spüren. Dennoch sollte ein Bedürfnis immer klar im Vordergrund stehen. Es ist das relevanteste, auf dieses wird die Priorität in der gesamten Produktgestaltung gelegt. Eine Ausnahme bilden meiner Einschätzung nach sehr große Plattformen mit unterschiedlichen Anwendungsfällen. Beispielsweise könnte man auf der Plattform des ADAC unterscheiden zwischen dem Community-Forum (Bedürfnis: Verbundenheit) und der Strecke zum Vertragsabschluss (Bedürfnis: Sicherheit). 

Warum sind die Grundbedürfnisse so wichtig für dein Produkt?

Es lohnt sich, herauszufinden, welches Grundbedürfnis deine Nutzer*innen haben, wenn sie dein Produkt bedienen, denn:

  • Das Wissen um das relevanteste Grundbedürfnis hilft dir beim Priorisieren von Features. Welche Funktionen brauchen deine Nutzer*innen wirklich am dringendsten?
  • Gleichzeitig fällt es dir auch leichter, Design-Entscheidungen zu treffen. Wie sollte sich das Feature anfühlen? Du hast mit dem Grundbedürfnis klare Leitplanken, an denen du Designs ausrichten und verargumentieren kannst.
  • Die Grundbedürfnisse sind ein Tor zu deinen Nutzer*innen. Sie helfen dir, deren Wünsche, Emotionen, Abneigungen etc. tiefer zu verstehen. Das hilft insbesondere auch bei ansonsten recht heterogenen Zielgruppen.
  • Du kannst prüfen, wie andere Produkte das Grundbedürfnis bedienen, und eventuell Muster übernehmen. Dazu gleich mehr.

Welches Grundbedürfnis bedient dein Produkt? 

Wie findest du nun das Kernbedürfnis deiner Nutzergruppe in deinem spezifischen Kontext heraus? 

Zuerst mal umgedreht: Du entdeckst es nicht durch eine Persönlichkeitsanalyse deiner Nutzerschaft. Denn es geht immer darum, was den Menschen im Kontext deines Produkts wichtig ist. Warum, sprich aus welchem Grundbedürfnis heraus, öffnen sie deine Anwendung? Ich unterscheide hier noch zwischen der Intention der Nutzer*innen und den Grundbedürfnissen. Wenn ich Outlook aufmache, will ich einen Termin erstellen oder sehen, was als Nächstes ansteht. Das Grundbedürfnis, das hier bedient wird, ist höchstwahrscheinlich Kompetenz - man möchte sich bei der Benutzung fähig fühlen und auf keinen Fall inkompetent.

Um das wichtigste Grundbedürfnis deiner Nutzer*innen zu identifizieren, bieten sich qualitative Forschungsmethoden an. 

Verwende die Bedürfniskarten mit Fragebogen

Wir halten uns gern an den Fragebogen, der den Bedürfniskarten von Diefenbach et. al. beiliegt. Mit dem Fragebogen kannst du überprüfen, inwiefern Nutzer*innen bestimmte Gefühle bei der Anwendung deines Produkts hatten. 

Bitte deine Nutzer*innen, die Aussagen im Fragebogen zu bewerten. Dies funktioniert immer nach dem Schema „Während ich Anwendung xy genutzt habe, hatte ich das Gefühl xy.” Ein Beispiel: „Während ich einen Post auf LinkedIn verfasst habe, hatte ich das Gefühl, jemand zu sein, dessen Meinung von anderen geschätzt wird.” Wenn viele Nutzer*innen dieser Aussage zustimmen, kannst du schlussfolgern, dass ein wichtiges Grundbedürfnis bei der Benutzung von LinkedIn die Popularität ist. 

Prüfe, ob du den Fragebogen für deine konkrete Fragestellung anpassen musst. Vielleicht kannst du auf ein paar der Aussagen verzichten, weil sie sehr unwahrscheinlich im Kontext deines Produkts auftreten. Vielleicht fügst du ein paar Varianten hinzu, um bestimmte Bedürfnisse sauberer abklopfen zu können. Und wie gesagt, die Bedeutsamkeit, die im Fragebogen noch geprüft wird, ist aktuell gar nicht mehr Bestandteil der Gruppe der Grundbedürfnisse.

Hier ein Ausschnitt aus einem fiktiven Fragebogen. Die ersten beiden Aussagen zielen auf das Bedürfnis Kompetenz ab, die dritte auf Sicherheit – mit mehreren Aussagen zu diesen beiden Bedürfnissen können wir abklopfen, welches eine größere Rolle spielt. Die vierte Aussage zielt auf Stimulation ab – dieses Bedürfnis können wir eigentlich ausschließen im Kontext unseres Produkts, und gegebenenfalls nur nutzen, um den Fragebogen und die Teilnehmer*innen ein bisschen aufzulockern.

Fragebogen mit angepassten Beispielfragen für die Abwicklung der Einkommensteuererklärung mit einem Programm
Fragebogen mit angepassten Beispielfragen für die Abwicklung der Einkommensteuererklärung mit einem Programm
(Fragebogen mit angepassten Beispielfragen, nach: Tools zur User Experience Gestaltung und Evaluation von Sarah Diefenbach, Eva Lenz, Marc Hassenzahl, Folkwang Universität der Künste, Essen, 2014, S. 21.)

Um den Fragebogen zu verwenden, brauchst du entweder ein fertiges Produkt oder zumindest einen recht weit entwickelten Prototypen. Nur so können die Nutzer*innen ja einschätzen, was sie bei der Benutzung gefühlt haben. Außerdem brauchst du ein passgenaues Research-Konzept - denn nicht immer wird ein Produkt genau so oder für den Zweck benutzt, für den es initial gebaut worden ist. 

Prüfe bestehenden Research

Alternativ oder ergänzend zur Befragung kannst du die Bedürfnisse auch aus existierendem Research ableiten. Prüfe dazu Aussagen, die deine Nutzer*innen bereits zum Produkt getätigt haben, auf Ähnlichkeiten zu den Formulierungen im Fragebogen, oder zu den Zitaten auf den Bedürfniskarten selbst, wie z. B. „Hier kenne ich mich aus” oder „So wie immer” als Aussagen, die auf das (erfüllte) Bedürfnis nach Sicherheit hinweisen. Genauso kannst du durch negative Aussagen erkennen, dass dein Produkt ein relevantes Bedürfnis nicht erfüllt: Wenn Nutzer*innen Ärger darüber äußern, dass sie dein Produkt nicht so benutzen konnten wie sie wollten, dass sie sich fremdgesteuert gefühlt haben, könnte das ein Anzeichen dafür sein, dass ihnen Autonomie wichtig ist, dein Produkt ihnen diese Autonomie aber (noch) nicht ermöglicht.

So nutzt du Grundbedürfnisse fürs Benchmarking

Erkenntnisse über das Kernbedürfnis deiner Nutzer*innen machen sich auf vielen Ebenen bezahlt, besonders wertvoll finde ich sie beim Benchmarking. Hier lassen sie dich ganz gezielt Muster erkennen, welche auch deinem Produkt zu glücklicheren Nutzer*innen verhelfen können.

So gehst du am besten vor:

1. Finde andere Produkte, die das gleiche Grundbedürfnis erfüllen

Überlege dir Kontexte (ganz unabhängig von deiner Branche), in denen Nutzer*innen das für dich relevante Bedürfnis haben könnten und validiere dies anhand des Fragebogens. Auf den Bedürfniskarten findest du Zitate, die du zum Reverse Engineering nutzen kannst. Wenn deine Anwendung also beispielsweise eine Krankenkassen-App ist und du das Bedürfnis „Sicherheit” ermittelt hast, kannst du überlegen, in welchen Kontexten Sicherheit eine Rolle spielt und dir entsprechende Produkte ansehen. Berücksichtige dabei aber auch die verschiedenen Nutzerziele und die Bereiche innerhalb der Anwendung, in denen Nutzer*innen sich bewegen. Auch wenn es bei einer App beispielsweise um Stimulation geht, ist Stimulation bei der Eingabe von Kreditkartendaten in dieser App nicht das Grundbedürfnis der Nutzer*innen. 

2. Erkenne Muster für dieses Grundbedürfnis

Nun kannst du die passenden Anwendungen analysieren. Gibt es typische Patterns, Farben, eine bestimmte Designsprache? Erkennst du eine wiederkehrende Tonalität im UX-Writing? Was davon könnte sich auch für dein Produkt eignen?

3. Übertrage die Muster oder Prinzipien auf dein Produkt

Die Nutzererfahrung profitiert von Vorhersehbarkeit und Wiedererkennbarkeit. Haben sich für bestimmte Grundbedürfnisse Muster etabliert – welche du beim Benchmarking identifiziert hast – ist es eine gute Idee, sie direkt oder indirekt in dein Produkt einfließen zu lassen.

Am Beispiel Sicherheit erklärt: In den Kontexten deines Produkts, in denen Nutzer*innen ein großes Sicherheitsbedürfnis haben, ist es besonders wichtig, mit bekannten Patterns aus diesem Kontext zu arbeiten. Denn gerade Sicherheit wird auch bedient durch eine Vorhersehbarkeit der Interaktionen: Klicks auf Buttons sollten keine Überraschung hervorrufen. UX-Writing spielt hier eine herausragende Rolle, besonders im Umgang mit Fehlern, seien sie systemseitig oder durch Nutzer*innen verursacht. Hier können die richtige Tonalität und auch die passenden Lösungsschritte über eine gute oder auch sehr schlechte Erfahrung entscheiden. Im Design sollten Transitions und Animationen, und vielleicht sogar die Farbwahl, Ruhe und Kontinuität vermitteln, um ein Gefühl von Sicherheit zu transportieren.

Fazit

Die psychologischen Grundbedürfnisse sind zentral für die Nutzererfahrung, weil sie direkt die Zufriedenheit und das Engagement der Anwender*innen beeinflussen. Sie zu kennen, hilft dir nicht nur, deine Nutzer*innen besser zu verstehen und dein Produkt daran auszurichten. Beim Benchmarking lassen sie dich gängige Muster erkennen und geben dir Orientierung und Inspiration. Probier es einfach aus. Und denk daran: Die Arbeit mit den Bedürfniskarten ist kein holistisches wissenschaftliches Forschungsprojekt. Nutze die Methode als pragmatisches, niedrigschwelliges Tool – mit großer Wirkung. 

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Über die Expertin

Nadine Pieper, Senior UX-Beraterin bei UX&I in Berlin

Nadine Pieper

Senior UX-Beraterin

Nadine begeistert sich seit mehr als 12 Jahren für Komplexität und bricht diese für Kund*innen, Teams und Nutzer*innen herunter – pragmatisch und mit knackigen Headlines.

Inhaltsverzeichnis
  1. Die 8 (oder auch 7) Grundbedürfnisse
  2. Wie sieht das in der Praxis aus?
  3. Warum sind die Grundbedürfnisse so wichtig für dein Produkt?
  4. Welches Grundbedürfnis bedient dein Produkt? 
  5. So nutzt du Grundbedürfnisse fürs Benchmarking
  6. Fazit

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