Wenn wir aufs Jahr 2024 blicken, sehen wir eine UX-Landschaft, die von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt von tiefen technischen Veränderungen geprägt ist. Umso interessanter, sich zu überlegen, wohin die Reise in diesem Jahr gehen könnte, welche Themen im und um den Bereich UX wichtig sein werden und auf welche Entwicklungen wir uns vorbereiten sollten. Ich habe einmal in unser Team gefragt, welche Trends die Kolleg*innen aus ihrer jeweiligen fachlichen Brille für relevant halten. Die Ergebnisse sind spannend und vielfältig. Wir wünschen viel Vergnügen beim Lesen und ein buntes, erfolgreiches 2024.
UX löst sein Versprechen ein
Trend von Rainer Sax, Senior Berater Strategie & UX
Vor vielen Jahren wurde gesagt, UX ist das, was Wert schafft an der Schnittstelle von User Needs und Business Needs. Die Klarheit dieses Satzes ist heute noch schön. Und ich glaube, gerade jetzt – Anfang 2024 – kann uns dieser Gedanke helfen, die aktuellen Entwicklungen einzuordnen.
Meine Überzeugung: UX wird an Klarheit gewinnen! Wenn wir uns darauf zurückbesinnen, werden wir bestimmte Dinge nicht mehr tun, die wir in den letzten Jahren als Teil unserer Arbeit angesehen haben. Andere Dinge werden wir intensivieren. Und es wird gut sein.
Die meisten UXer*innen kennen das Venn-Diagramm mit User-Needs und den Business-Needs. Und hurra, die Schnittmenge ist UX! Damit war immer ein Versprechen verbunden: UX schafft Wert und verbindet unterschiedliche Welten:
In der Arbeitsrealität sieht die Sache anders aus. Was wir machen, ist irgendwo in dem Bereich, aber es ufert aus:
Jetzt ist die Chance, das Versprechen einzulösen. 2024 kann der Anfang sein. Die nicht-UX Dinge abzuschneiden, auszutrocknen:
Wir werden hoffentlich aufhören, das Rad oder das Akkordeon-Pattern oder Formular-Semantik neu zu erfinden. Das ist fertig. Daran zu arbeiten nützt weder Nutzer*innen noch dem Business, es ist nicht UX!
Was noch weg kann: Beispielsweise Conversion Optimization – AI ist besser in der Anwendung von Dark Patterns und klein-klein Optimierung, als Menschen es je sein können. Und es entspricht ohnehin nicht dem, was UX sein sollte, weil es Nutzer*innen nicht ernst nimmt.
Dinge im luftleeren Raum zu machen und das Business zu ignorieren, können wir uns nicht länger leisten.
Damit fällt insgesamt eine ganze Menge weg …
… und es entsteht Klarheit für unser Arbeitsfeld:
User-Needs durch Research besser durchdringen. Weiter an Methoden feilen. Business-Needs besser verstehen. Fachlichkeit neu betrachten. Das sind die Versprechen, die wir uns selbst gegeben haben. Dafür müssen wir kämpfen, die Klarheit stärken und immer weiter schärfen. Wenn wir das richtig machen, befruchtet sich das gegenseitig. Und erst dann ist es UX.
KI-Unterstützung für User Research und Datenauswertung
Trend von Thomas Göthe, Senior UX-Berater
Eine Entwicklung, die an keinem UX-Professional vorgehen wird, ist die der KI. ChatGPT und auch andere KI-unterstützten Tools werden immer mehr in den Arbeitsbereich von UX-Professionals und damit in unseren Werkzeugkoffer wandern. 2024 und darüber wird KI-gestütztes UX-Design immer weiter voranschreiten. KI-Tools werden genutzt werden, um Forschung zu unterstützen und zu strukturieren. Dabei werden diese Hilfsmittel nicht nur in der Auswertung und Aufbereitung von Ergebnissen verwendet. Schon in der Anfangsphase beim ersten Eintauchen in ein Thema können Large Language Models wie ChatGPT mit dem Zugang auf breites Domänenwissen unterstützen und erste Ansätze für Research-Fragen anbieten.
Einsatzmöglichkeiten von KI im UX Research:
- Research-Fragen erstellen
- Auf den breiten Datensatz zurückgreifen und erste User Journeys erstellen
- Auf spezielles Domänenverständnis zurückgreifen
- Erstellen von Proto-Personas
- Interview-Leitfäden erstellen
- Behavioral Analytics betreiben, z. B. mit Tools wie Hotjar
- Sentiment Analytics erstellen, um Nutzermeinungen Emotionen zuzuordnen, z. B. mit MonkeyLearn
Aber Achtung vor KI-Halluzinationen! KI-Aussagen basieren auf den gesammelten und trainierten Datensätzen und sollten immer überprüft, hinterfragt und mit echtem Research validiert werden. Ob die Richtung oder die Idee, die die KI vorgeschlagen hat, die richtige ist, kann erst durch echte Nutzertest validiert werden. Menschen bleiben also auch in Zukunft unersetzlich in einem Human-Centered-Design-Prozess.
Was tun, um sich mit der Materie vertraut zu machen? Keine Angst haben. Tools wie ChatGPT, Midjourney, Dall-E ausprobieren und selbst kleine Experimente starten. Du solltest ein Gefühl dafür bekommen, wie Prompts formuliert werden, um sinnvollen Output zu generieren. Des Weiteren können die eigenen UX-Skills genutzt werden, um mit Menschen zu sprechen, die schon KI nutzen oder genutzt haben, um ein besseres Verständnis zu gewinnen. Zu empfehlen sind auch Podcasts zu dem Thema, beispielsweise Folge 24 vom „The NN/g UX Podcast”, der sich explizit mit dem Einsatz von KI im Bereich UX befasst und auch auf Risiken eingeht.
KI wird aus dem Arbeitsumfeld von UX-Professionals in absehbarer Zeit nicht mehr wegzudenken sein und das nachweisbare Potenzial, die Produktivität in unserem Bereich zu steigern (vgl. „The Impact of AI on Developer Productivity: Evidence from GitHub Copilot”).
Team-Alignment mittels WOOP zu Beginn der Product Discovery
Trend von Thomas Petzold, Senior UX-Berater
2024 wird es noch zentraler, als Product-Team gemeinsame Ziele und Strategien zu identifizieren und festzulegen. Kernfragen sind: Wo stehen wir gegenwärtig? Welche Ziele verfolgen wir? Und vor allem, wie erreichen wir diese Ziele? Durch die frühzeitige Einbindung aller relevanten Teammitglieder wird eine vielseitige Perspektive gewährleistet und es entsteht ein gemeinsames Verständnis für Wish, Outcome, Obstacles und Plan (WOOP).
Die WOOP-Methode
Die WOOP-Methode (Wish, Outcome, Obstacle, Plan) ist eine kognitive Technik, die sich als nützliches Instrument im Rahmen von Team-Alignments erweisen kann. Sie unterstützt dabei, realistische Ziele zu setzen und – unter Einbezug potenzieller Hindernisse – einen klaren Pfad zu deren Erreichung zu schaffen.
- Wish: Der erste Schritt beinhaltet die klare Identifikation und Artikulation des Wunsches oder Ziels. Im Kontext von UX-Projekten könnte dies beispielsweise das Streben nach einer verbesserten Benutzererfahrung oder die Einführung innovativer Designelemente sein.
- Outcome: Hierbei geht es darum, das positive Ergebnis zu visualisieren, das aus der Erfüllung des Wunsches resultiert. Im Bereich UX könnte dies die Vorstellung sein, wie die Benutzerfreundlichkeit gesteigert wird und wie die Anwender positiv auf die Neuerungen reagieren.
- Obstacle: Es ist wichtig, potenzielle Hindernisse oder Barrieren zu identifizieren, welche die Umsetzung des Wunsches behindern könnten. Dies können technologische, zeitliche oder sogar zwischenmenschliche Herausforderungen sein, die im Team-Alignment erkannt und besprochen werden sollten.
Plan: Basierend auf den erkannten Hindernissen wird nun ein konkreter Plan entwickelt, um diese Herausforderungen zu überwinden. Dieser Schritt ist entscheidend, um sicherzustellen, dass das Team gut vorbereitet ist und die nötigen Schritte unternehmen kann, um die gesetzten Ziele zu erreichen.
Wichtig ist, dass sich Teammitglieder beim Alignment nicht nur auf fachlicher Ebene begegnen, sondern auch persönlich kennenlernen und offen über Ideen, Herausforderungen und mögliche Erfolge kommunizieren. So wird auch die Zusammenarbeit im Team gestärkt, was nicht nur die Effizienz steigert, sondern auch zu innovativen Lösungsansätzen führt.
Der Weg zu erfolgreichen UX-Projekten im Jahr 2024 beginnt somit mit einem offenen Austausch, einer gemeinsamen Ausrichtung und einem klaren Verständnis der gemeinsamen Ziele und Herausforderungen.
Fokus
Trend von Juliana Hirsing, Senior UX-Writerin
Eine UX-Kernaufgabe wird 2024 glänzen: Menschen helfen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und mit wenig mentalem Ballast durchs Digitale zu navigieren. Wir alle brauchen Fokus für unsere physische Gesundheit und unsere Produktivität. Informationsflut, unzählige Kommunikationskanäle, komplexe globale Zusammenhänge und persönliche Herausforderungen halten immer mehr dagegen. UX hat hier enorme Wirkungsmacht. Minimalistisches Design, klare Navigation, angemessene Informationstiefe und Standards sollten 2024 mehr denn je vor Eye Candy und Originalität stehen. (Beispiel Cookie Notice: Es schien mal nett, hier etwas Witz und Abwechslung reinzubringen. Aber wie schön wäre doch endlich ein optischer und funktionaler Standard?)
Als Texterin werde ich mich dieses Jahr noch öfter fragen: Brauchen wir das wirklich? Was ist die Essenz eines Flows, sprachlich wie konzeptionell? Klarheit, Kürze und Präzision sind die Kriterien. Spannend wird, digitale Produkte dennoch „conversational” zu gestalten, so dass Nutzer*innen empathisch begleitet werden und eine emotionale Beziehung zur Marke bzw. zum Produkt entstehen kann. Passend dazu will ich auch meine eigenen Prozesse straff ziehen, Tools reduzieren und KI für Tasks einsetzen, um mich auf die wertschöpfenden Jobs zu konzentrieren.
Interactive Data Visualization
Trend von Manuel Stieglitz-Hartmann, Senior UX-Berater
"Ein Bild sagt mehr als tausend Worte", das gilt auch für die User Experience, weshalb 2024 eine gute interaktive Datenvisualisierung den Unterschied machen kann zwischen einer guten und einer großartigen Erfahrung. Eine grafische Aufbereitung kann Informationen schneller, einfacher und verständlicher transportieren. Das sind alles Kriterien, die bei der Gestaltung von Interfaces helfen können. Und in Kombination mit Interaktion können Nutzer*innen Daten wirklich erkunden.
Interaktive Datenvisualisierungen sind wertvolle Werkzeuge in Bereichen wie Datenanalyse, Business Intelligence, wissenschaftlicher Forschung und Journalismus. Sie ermöglichen es Benutzer*innen, Erkenntnisse zu gewinnen, Muster zu entdecken und datenbasierte Entscheidungen zu treffen, indem sie aktiv mit der visuellen Darstellung von Informationen interagieren.
Zu den wichtigsten Merkmalen zählen:
1. Benutzerbeteiligung: Benutzer*innen können mit der Visualisierung interagieren und verschiedene Aspekte der Daten basierend auf ihren Interessen oder Fragen erkunden.
2. Dynamische Exploration: Die Möglichkeit, Parameter zu ändern, herein- oder herauszuzoomen, Daten zu filtern oder zwischen verschiedenen Ansichten zu wechseln, ermöglicht es Benutzer*innen, Muster, Trends und Details innerhalb des Datensatzes dynamisch zu erkunden.
3. Echtzeit-Updates: Interaktive Visualisierungen bieten oft Echtzeit-Updates oder sofortige Reaktionen auf Benutzeraktionen, um ein reaktionsschnelles und flüssiges Benutzererlebnis zu ermöglichen.
4. Anpassung: Benutzer*innen können die Einstellungen der Visualisierung anpassen, wie zum Beispiel Achsen anpassen, bestimmte Datenpunkte auswählen oder verschiedene visuelle Darstellungen wählen, um ihren Vorlieben und Analysebedürfnissen gerecht zu werden.
5. Multidimensionale Ansichten: Interaktive Datenvisualisierungen können Daten in mehreren Dimensionen präsentieren und Benutzer*innen ermöglichen, komplexe Beziehungen und Abhängigkeiten im Datensatz zu betrachten.
6. Tooltips und Informationsanzeigen: Die Bereitstellung zusätzlicher Kontextinformationen oder Details über Tooltips und Informationsanzeigen verbessert das Benutzerverständnis und hilft, fundierte Interpretationen vorzunehmen.
Ein sehr bekanntes und zugleich altes Beispiel ist die Visualisierung des Russlandfeldzugs Napoleons von 1869. Darin werden sechs Variablen in nur zwei Dimensionen dargestellt:
Für Beispiele aktueller Datenvisualisierungen aus verschiedensten Bereichen ist die Webseite Information is beautiful eine gute Anlaufstelle. Für alle, die auch in den Maschinenraum schauen möchten, empfehle ich die Arbeiten von Mike Bostock, der mit D3 eine sehr mächtige JavaScript-Bibliothek für Datenvisualisierung angestoßen hat. Die Beispielseite von D3 bietet über 100 Visualisierungen, die sowohl Interaktionsmöglichkeiten wie auch Visualisierungstechniken zeigen, wie diese zur Präsentation hierarchischer Beziehungen zwischen Klassen in einer Software. Gelungen fand ich auch die interaktive Karte vom Radlquartier München.
Wir stehen auf Schultern von Riesen: All diese Beispiele verdeutlichen, wie vielfältig und machtvoll Datenvisualisierungen sein können und dass es sich immer lohnt zu recherchieren, was andere Menschen schon gemacht haben.
Bevor wir unsere User Interfaces mit interaktiven Datenvisualisierungen erweitern, sollten wir immer über Dark Patterns nachdenken. In der Datenvisualisierung beziehen sich diese auf bewusste Designentscheidungen und Informationsdarbietungen, die Benutzer*innen manipulieren oder täuschen und Wahrnehmungen, Verhalten oder Entscheidungsfindung auf eine Weise beeinflussen, die möglicherweise nicht im besten Interesse der Benutzer*innen liegt. Hier sind einige Beispiele:
1. Irreführende Achsen: Manipulation der Skala der Achsen, um Unterschiede in den Daten zu übertreiben oder zu minimieren. Dadurch können kleine Veränderungen als signifikant erscheinen oder umgekehrt.
2. Cherry-Picking von Daten: Selektives Präsentieren von Datenpunkten oder Zeitperioden, um einen bestimmten Trend hervorzuheben, während andere relevante Informationen ignoriert werden, die ein genaueres Bild liefern könnten.
3. Voreingenommene Farbschemata: Verwendung von Farben auf eine Weise, die die Wahrnehmung beeinflusst, wie z. B. die Auswahl von Farben, die mit positiven oder negativen Emotionen verbunden sind, oder die Verwendung von Farbverläufen, die die Daten falsch darstellen.
4. Inkonsistente Einheiten oder Skalen: Präsentation unterschiedlicher Einheiten oder Skalen auf derselben Visualisierung, was es Benutzer*innen schwer macht, Datenpunkte genau zu vergleichen.
5. Überlagerung von Informationen: Platzieren von nicht zusammenhängenden oder irreführenden Grafiken über den Daten, um Benutzer*innen von den tatsächlichen Informationen abzulenken oder eine falsche Erzählung zu vermitteln.
6. Manipulation von Daten Labels: Selektive Verwendung von Labels, um bestimmte Datenpunkte zu betonen oder herunterzuspielen, oder das strategische Platzieren von Labels, um die Aufmerksamkeit von wichtigen Details abzulenken.
7. Fehlender oder weggelassener Kontext: Fehlen der notwendigen Kontextinformationen oder Auslassen von Informationen, die Benutzer*innen helfen würden, die Daten genau zu interpretieren, was zu Missverständnissen führt.
8. Animation von Daten zur Ablenkung: Hinzufügen von unnötigen Animationen oder visuellen Effekten, die die Aufmerksamkeit von wichtigen Datenpunkten oder Trends ablenken.
Diese kleine Einführung soll zeigen, was interaktive Datenvisualisierungen ermöglichen und worauf aus Nutzersicht geachtet werden muss. Sie sind eine mächtige Ergänzung für ein User Interface, zahlen aber auch stark auf die User Experience ein – weshalb ein solides Grundwissen rund um Datenvisualisierung die ideale Ergänzung für jeden UX-Professional im Jahr 2024 ist.
Fazit
2024 wird spannend für die UX-Welt. Der Fokus liegt auf der Steigerung der Klarheit, der Förderung von Team-Alignment und der Konzentration auf das Wesentliche, um Nutzer*innen sicher und ohne Ablenkung durchs Digitale zu leiten. Auch interaktive Datenvisualisierungen werden eine noch wichtigere Rolle einnehmen. Dabei müssen wir immer ethische Aspekte beachten und den Menschen in unserem Designprozess wertschätzen. Auf geht’s in ein Jahr voller Innovationen und kreativer Lösungen, die Mehrwert schaffen und den Menschen in den Mittelpunkt stellen.